Das "Mehr" von Behinderten

von Gabriele Jokele

 

Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob die sogenannten „behinderten Menschen“ den
„nicht behinderten Menschen“ etwas voraushaben? Ob sie mehr können?

Vermutlich eine selten gestellte Frage. Antworten können wir in unseren Begegnungen und
Beobachtungen finden.
Überlegen Sie jetzt:

Kenne ich jemanden?

Was fehlt dieser Person?

Benötigt sie Hilfe?

Vor dem inneren Auge zeigen sich verschiedene Arten von Einschränkungen von „leicht“ bis „schwerst“ im körperlichen, geistigen und seelischen Bereich und – im schlimmsten Fall –
sogar in mehreren Bereichen.

An drei Beispielen will ich Ihnen von meinen Erfahrungen erzählen.

Beginnen will ich von einer der für mich spektakulärsten Beobachtung von „körperlich
behindert“. Ich war mit dem Zug unterwegs. Am Ziel (Schwandorf, Gleis 3) angekommen, sah
ich am Bahnsteig einen jungen Mann, wie er mit seinen Armen seinen Rollstuhl auf die
Treppen zulenkte. Meine Gedanken waren: „Oh weh, Schwandorf hat keinen Aufzug. Nur
durch eine Unterführung kommt man zum Ausgang.“ Ich beschleunigte meine Schritte, holte
auf und fragte, ob ich ihm helfen könnte. Er lächelte und verneinte. Ein bisschen Skepsis und
Neugierde macht sich breit. Was würde er jetzt tun? Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender
Lärm. Der dadurch erzeugte Schreck fuhr nur so durch den ganzen Körper. Was war
geschehen? Der Rollstuhlfahrer schien die Treppe herunterzustürzen.
Aber nein! Was war das? Das gab es doch nicht! Er hielt sich so geschickt am
Treppengeländer fest, sich samt dem Rollstuhl voll unter Kontrolle, und „hopste“
geräuschvoll entlang des Gepäckbandes die Treppen runter. Olympiareife Akrobatik.

Ich staunte, war fasziniert und beeindruckt. Was für eine Leistung! Unvorstellbar!
Überdurchschnittlich! Dieser Mann hatte im wahrsten Sinne des Wortes Begrenzungen
überwunden. Ein Beispiel für körperliches Über-Sich-Selbst-Hinauswachsen.

Meine Augen wurden feucht vor Freude und Erleichterung. Leider war mir das unangenehm,
deshalb ging ich meiner Wege, obwohl ich so gerne gefragt hätte, ob ich diese Leistung mit
dem Handy filmen dürfte. Das bereute ich im Nachhinein.

Sollte ich ihn wiedersehen, weiß ich sicher, dass ich fragen werde.

Traurig war und bin ich dennoch, weil es – wie in Schwandorf, dessen Bahnhof auch häufig
zum Umsteigen genutzt wird – immer noch Bahnhöfe gibt, die nicht behindertengerecht
ausgebaut sind.

Zurück zum Thema. Wie viel mehr können Körperbehinderte noch? Schwer(st)behinderte
gründen zum Beispiel einen Verein und organisieren Hilfen selbst. Sie klären auf, machen
aufmerksam und schreiten zur Tat.
Ein Beispiel in unserer Region ist PHÖNIX e. V. in Regensburg. Ein Verein von Behinderten für
Behinderte, der Beratung und Hilfe für behinderte Menschen anbietet.


Im zweiten Beispiel folgt ein Ausflug in die Kategorie „geistig behindert“.

Das fiel bei Begegnungen und Beobachtungen besonders auf: Manche, hauptsächlich
Erwachsene, wirkten teilnahmslos, „abwesend“, „anderswo“. Manche dagegen schienen
glücklich. Woran lag das?

Einen Grund glaube ich, entdeckt zu haben. Bei Stefan sah man es besonders. Stefan dürfte
so Mitte dreißig gewesen sein, als wir uns kennen lernten. Er unterhielt sich gerne.
Besonders über Tiere, über die er auch in Büchern las. Er erzählte, was er alles wusste. Es
waren meist die gleichen Geschichten, aber Stefan freute sich, wenn man zuhörte und er
seine Liebe zu Tieren mitteilen konnte. Ich wusste, dass er in einer Behindertenwerkstätte in
Hermannsberg in der Nähe des Bodensees arbeitete. Ich fragte ihn einmal, was er da tun
würde. Er erzählte, dass er Kerzen herstellen würde. Er beschrieb jeden kleinen Schritt und
die Sorgfalt, mit der er ihn ausübte. An der Art seines Erzählens konnte ich fühlen, wie viel
Liebe und Achtsamkeit er in seine Tätigkeit steckte. Die Menschen, die Stefans Kerzen
kauften, sollten sich an ihnen erfreuen. Stefan schien glücklich und er wollte zum Glück
anderer beitragen. Seine Arbeit hatte einen „Sinn“. Kerzen aus „Stefans Werkstatt“
verbreiten für mich deshalb nicht nur Licht, sondern auch Liebe, Freude und Dankbarkeit.

Glücklichsein. Sinn des Lebens.

Unruhig, ängstlich oder besorgt erlebte ich Stefan nur, wenn etwas von seinem bekannten
Zeitplan „außerordentlich“ abwich oder er etwas tun oder lassen sollte, was gegen sein
Wollen oder Gefühl war. Es schien ihn zu stressen.

Andere wirkten nicht glücklich. Dem Eindruck bzw. Gefühl nach übten sie Tätigkeiten aus,
weil es ihnen aufgetragen wurde, nicht, weil sie es wollten. Sie wussten nicht, wofür und
warum sie etwas taten. Es hatte für sie keinen „Sinn“. Wenn es Worte nicht ausdrücken
konnten, zeigten es Mimik und Gestik.

Ob diese, oder ein Teil von ihnen, in „gut-gemeinter“ Absicht nicht am richtigen Ort
untergebracht waren?

Bei kleinen und jungen Personen mit UND ohne so genannten „geistigen Einschränkungen
oder Behinderungen“ fiel mir immer wieder auf, dass es ihnen umso besser ging, je mehr
man deren Besonderheiten, Fähigkeiten und Wünsche beachtete und wertschätzte, also
zum Beispiel:

Wenn sie sich in dem für sie richtigen Tempo und der für sie richtigen Art entwickeln
durften.

Wenn sie nicht in irgendwelche vorgegebenen/vorgeschriebenen Schemen und/oder
Maßnahmen gesteckt wurden, die nicht zu ihnen passten.

Wenn sie nicht an die Anforderungen von (Lehr-)Plänen angepasst wurden/werden
sollten, sondern die sich (Lehr-)Pläne an den Notwendigkeiten/Bedürfnissen von ihnen
richteten.

Bemerkten Sie schon einmal, dass Kinder von sich aus normalerweise keinen Unterschied
machen zwischen behindert und nicht-behindert? (Übrigens auch nicht zwischen dieser
Religion/Hautfarbe/Herkunft … und einer anderen). Wahrgenommene Unterschiede dürfen
von Natur aus wertfrei nebeneinander existieren. (Be-)Wertungen scheinen erst am Ende
der Kindheit eine beginnende Rolle zu spielen.

Die „normalen“ Menschen passen sich danach meist den vorgegebenen, bestehenden oder
erwarteten Regeln, Möglichkeiten, Umständen usw. an oder arrangieren sich damit.
Ansehen, Wert, Vermögen, Stellung, Position usw. treten ins Leben mit den negativen
Begleiterscheinungen und Folgen, die bis zur Tötung der eigenen Spezies gehen.

Die mir bekannten so genannten „geistig behinderten“ Menschen dagegen kennen alle
keinen Neid, keine Missgunst. Sie freuen sich, wenn sich andere freuen. Es geht ihnen gut,
wenn es anderen auch gut geht. Sie können gönnen. Sie leben im berühmten „Hier und
Jetzt“, in der Gegenwart. Sie halten sich nicht in der Vergangenheit oder der Zukunft auf. Sie
sind glücklich, wenn sie sein dürfen, wer und wie sie sind, wenn sie ihre Fähigkeiten und
Talente nutzen (dürfen).

Zusammengefasst:
Sie wissen, worauf es im Leben ankommt, und leben es vor (wenn es ihnen ermöglicht wird).
Sie haben es nicht vergessen oder verdrängt. Sie kennen den Sinn des Lebens. Ein Mehr an
Wissen und Weisheit als bei vielen „normalen“ Menschen.

Natürlich können da schnell Gedanken aufkommen, wie:

Die haben es ja leichter. Um die kümmert man sich. Ihnen wird viel abgenommen. Sie
müssen sich nicht mit bestimmten Themen, Sorgen, Widrigkeiten usw. plagen. Ja, das
stimmt vermutlich. Aber auch sie haben eine Aufgabe in diesem Leben. Vielleicht ist es die,
dass andere an ihnen erkennen können, was im Leben wichtig ist. Den Sinn des Lebens
entdecken, ggf. zwischendurch innezuhalten und sich wieder daran zu erinnern, oder das
eigene Leben zu hinterfragen. Vielleicht wird der eine oder andere dann sogar inspiriert und
beschreitet andere, neue Wege und erlebt dadurch ein bisschen mehr an Glücklichsein.


Im dritten Beispiel will ich Ihnen von einem mutigen Arbeitgeber erzählen, der einem
außergewöhnlichen Mann eine Chance gab.

Der Arbeitgeber war ein Transportunternehmer in Baienfurt in der Nähe von Ravensburg.
Ihn beauftragte ich mit dem Umzug von Baden-Württemberg zurück in meine Heimat
Bayern. Am Umzugstag standen ein paar Männer vor der Tür, bereit, alle Kisten und Mobiliar
in einem LKW zu verstauen. Der Chef war auch dabei. Einer seiner Männer fiel extrem auf. Er
bekam in relativ regelmäßigen Abständen Schüttelanfälle, die er scheinbar nicht
kontrollieren konnte. Ich wunderte mich und fragte mich, welche Aufgabe dieser Mann wohl
haben würde.

Wie die anderen, begann auch er mit dem Tragen von Kartons. Sofort begannen zwei
Stimmen in meinem Kopf, sich zu unterhalten. Die eine, die skeptisch war, ob das wohl gut
ginge, und wie viel wohl kaputt gehen würde. Die andere, die lautere Stimme, entgegnete:
Der Chef ist dabei. Er wird schon wissen, was er tut. Er hätte ihn nicht eingestellt, wenn er
ihm den Job nicht zutrauen würde. Und: Der Mann kennt seine Aufgaben. Wenn er sich das
selbst nicht zutrauen würde, hätte er den Job bestimmt nicht angenommen.

Das beruhigte mich. Genau dieser Mann wurde auch beauftragt, die Lampen abzumontieren.
Eine Prüfung für mich! Fiele er wohl von der Leiter? Würde er sich verletzen? … Er bat mich
nur, die Leiter zu halten. Alles ging gut. Trotz Zappeln. Der Chef und sein Angestellter
wussten genau, was sie taten.

Was kann man daraus lernen?

Toll, dass es Arbeitgeber gibt, die mutig sind und jemandem eine Chance geben, obwohl der
Job auf den ersten Blick nicht geeignet scheint. Der Arbeitnehmer hat dadurch die
Möglichkeit, es selbst herauszufinden. So hatte ich großen Respekt sowohl vor dem Chef als
auch vor seinem Angestellten, und empfand eine große Freude.


Sie, liebe Leser, lade ich herzlich ein, nicht (nur) darauf zu schauen, was behinderte
Mitbürger nicht können, sondern das Hauptaugenmerk darauf zu legen, was diese alles
können. Und sie werden feststellen, sie können mehr, als sie sich vorstellen können und
ihnen zutrauen. Wie viele Schätze wurden da noch nicht gehoben!

 

Text: Gabriele Jokele, Schulbegleiterin Phönix e. V.